Tao Liu
Bis vor ein paar Monaten war Tao Liu ein völlig Unbekannter. Jeden Morgen stieg er in der ostchinesischen Stadt Hefei auf sein Moped, fuhr Wasserzähler ab und notierte die Verbrauchswerte – ein unauffälliges Leben, wie es die meisten Menschen führen, mit einem Job, der ihm nicht besonders viel Spaß machte. Sein größter Traum: irgendwann in den Innendienst versetzt zu werden, weil man sich im Büro die Kleidung nicht so schnell ruiniert. So wäre es vermutlich ewig weitergegangen, hätte Tao Liu nicht vor drei Jahren begonnen, nach seinen Dienstfahrten zu fotografieren und irgendwann seine Bilder auch ins Netz zu stellen, von denen hier zum ersten Mal in einem deutschen Magazin eine Auswahl zu sehen ist: Schnappschüsse von der Straße, nicht sehr aufwändig, aber jedem von ihnen merkt man an, dass Tao Liu das seltene Talent hat, in jenem Augenblick abzudrücken, in dem das Leben plötzlich magisch wirkt. Zwei Jungs, die in eine Herde von Kunststoffpandas geraten sind. Das Fahrrad eines mobilen Luftballon-händlers. Männer, die in roten Fahnen verschwinden. Und immer wieder Menschen, die in aller Öffentlichkeit ein Nickerchen einlegen. Im Oktober letzten Jahres entdeckte ein chinesischer TV-Sender diese Fotos vom Reichtum des Alltags in einer ganz normalen chinesischen Stadt, es folgte ein Interview im Time Magazine, und plötzlich war der 32-Jährige so bekannt, dass er in Peking eine Ausstellung und einen Fotopreis bekam und ein französischer Sammler ihm für eines seiner Bilder sehr viel mehr bot, als er als Wasserzählerableser in einem ganzen Jahr verdient. Tao Liu lehnte ab: „Ich will mir einfach nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob ich den Geschmack von Käufern oder Sammlern treffe.“ Und jetzt? Weitermachen wie bisher, allerdings mit der Gewissheit, wie sehr die Leute mögen, was er macht. Den Traum vom Bürojob im Trockenen hat er mittlerweile aufgegeben – „selbst wenn sie mir mehr bezahlen würden.“