alles oder
nichts
Thomas Glavinic ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine Ausnahmeerscheinung. Der 42-Jährige war zweimal für den Deutschen Buchpreis nominiert, veröffentlicht bei einem renommierten Verlag, kann über seine ästhetischen Überlegungen eloquent Auskunft geben. Doch jeder seiner Romane wird von Plots und Dialogen vorangetrieben, ist auch für Menschen zugänglich, die sich nicht mit Literaturtheorie befasst haben, und auf fast altmodische Weise spannend. Man möchte auf jeder Seite wissen, wie es weitergeht, bei jeder Geschichte, wie sie ausgeht. Das Wichtigste aber: Glavinic-Romane handeln immer von einem Alles oder Nichts. In Die Arbeit der Nacht wacht ein gewisser Jonas auf, um festzustellen, dass alle anderen Menschen auf der Welt spurlos verschwunden sind. In Das Leben der Wünsche werden einem Mann, der ebenfalls Jonas heißt, die Wünsche erfüllt, die in seinem Unbewussten rumoren – was unter anderem dazu führt, dass seine Frau stirbt. In Das größere Wunder, seinem bislang letzten Roman, steigt ein dritter Jonas auf den Mount Everest und stirbt fast dabei. Es sind Geschichten, die man im Englischen mind fucks nennen würde, weil sie im Leser die Frage auslösen, was er an der Stelle der Romanhelden täte – in den Todeszonen, in denen man auf sich allein gestellt ist.
Wir sind bei einem Italiener im vierten Wiener Bezirk verabredet. Glavinic sieht ein wenig fertig aus, weil er am Abend zuvor etwas zu exzessiv ausgegangen ist und ihn am Vormittag sein Personal Trainer ein paar Stunden lang geschunden hat.
THOMAS GLAVINIC SAGT VON SICH SELBST, ER SCHREIBE WIE EIN BEAMTER. DAS IST EINE LüGE. ER SCHREIBT WIE EIN VERRüCKTER, DER ES NICHT AUSHäLT, NICHT SEINEN KOPF ZU RISKIEREN.
text Peter Praschl
fotografie Lukas Gansterer
romane in der
todeszone
NOAH: Was ist so toll daran, ein Schriftsteller zu sein? THOMAS GLAVINIC: Ich arbeite sicher weniger und verdiene sicher mehr als die meisten Menschen. Das klingt sarkastisch, aber es ist so. Natürlich hatte das bei mir viel mit Glück zu tun. Wenn man nicht wahrgenommen wird, muss man irgendwann ja wieder Taxi fahren. Schriftsteller zu sein ist ein schöner Beruf. Ich setze mich hin und kann bei dem sein, was mich ausmacht. Ich bin nie so nahe an mir und an den Dingen wie am Schreibtisch. Das ist auch anstrengend, aber ein bisschen Anstrengung schadet ja nicht. NOAH: Strengen Sie sich gerade an? GLAVINIC: Wieder. Allerdings ist es ein so großes Projekt, dass ich immer wieder innehalten muss, um sicherzugehen, dass ich es auch bewältigen kann. Falls ich zu schnell schreibe, laufe ich dem Roman davon. Und wenn ich zu langsam schreibe, läuft mir der Roman davon. Ich muss mich immer darum bemühen, dass wir zusammenbleiben. Außerdem geht es gerade ein wenig drunter und drüber in meinem Leben. Aber ab Dienstag bin ich in den USA. Drei Monate writer in residence an einer Universität in Pennsylvania. Da muss ich nur hin und wieder mit den Studenten reden. Sonst kann ich schreiben und herumfahren. NOAH: So wie Sie Ihren Schreibprozess beschreiben, habe ich es mir schrecklich vorgestellt, immer auf die eine Idee warten zu müssen, die einen ganzen Roman tragen kann. GLAVINIC: Ach nein, ich habe immer mehrere auf Halde. Ich hätte keine Schwierigkeiten, ein Buch zu schreiben, das ganz anders ist. NOAH: Deponieren Sie diese Ideen irgendwo? GLAVINIC: Nein. Eine Romanidee kann nur eine große Idee sein. Falls ich sie vergesse, kann sie nicht groß gewesen sein. NOAH: Wie lange gehen Sie dann schwanger mit einem Buch? GLAVINIC: Bei Das größere Wunder hat es insgesamt acht Jahre gedauert. Aber ich bin dabei auch zweimal gescheitert und nach hundert Seiten darauf gekommen, dass es so nicht funktioniert. Natürlich habe ich in dieser Zeit auch anderes geschrieben. Das fällt mir nicht schwer. Ich mache das wie ein Beamter, jeden Tag zwei Seiten. Auch wenn ich am Vortag gefeiert habe, es wird gearbeitet. Ich glaube, dass viele Menschen aus ihrem Talent nur deswegen nichts machen, weil ihnen die Disziplin fehlt. Ich habe in vielen Dingen keine Disziplin, beim Schreiben schon. NOAH: Können Sie sich das erklären? GLAVINIC: Es ist einfach der unbedingte Wille. Ich wollte immer schon ein Schriftsteller sein. Es gibt nichts, was ich je mit so einem fanatischen Willen wollte. NOAH: Wenn einem so viel daran liegt, ist das nicht ein Einfallstor für Selbstzweifel? GLAVINIC: Ich schaue nie mehr in meine Bücher. Jedes Mal, wenn ich es nach Jahren doch tue, denke ich: Das ist so schlecht, das gibt’s doch gar nicht. NOAH: Sie müssen doch noch Lesungen aus Ihren Büchern veranstalten. GLAVINIC: Das geht gerade noch. Aber sobald ich danach von einem Buch weg bin, halte ich es kaum noch aus. NOAH: Bis ein Übersetzer Sie daran erinnert … GLAVINIC: Das ist manchmal völlig irre. Mein türkischer Übersetzer hatte Fragen zum Kameramörder, bei denen ich keine Ahnung hatte, was er von mir wollte. Ich habe ihn dann auch noch einmal in Istanbul getroffen – und wieder nicht verstanden, was er wollte. Ich weiß nicht, welche Sprache er gesprochen hat. Seitdem frage ich mich, was in der türkischen Ausgabe eigentlich steht. Mein englischer Übersetzer hingegen erlaubt sich die Kühnheit, manchmal Dinge zu streichen oder zu verändern. In einer Szene in Die Arbeit der Nacht steht der Held vor einem Haus, und jeder Name auf den Klingelschildern hatte für mich eine ganz bestimmte Bedeutung. Und dann schreibt der mir, er hätte sich erlaubt, diese Namen durch andere zu ersetzen, die im Englischen gängiger sind. Ich habe ihn gefragt, ob er geistesgestört ist. Wie kommt man auf so etwas? Mein holländischer Übersetzer wiederum ist ein unglaublich guter Leser. Er findet in jedem meiner Bücher immer noch zwei, drei logische Fehler. Das ist dann ganz toll. Weil ich mich dann jedes Mal fragen muss, warum das vor ihm nie jemandem aufgefallen ist … NOAH: Stören Sie solche Fehler? GLAVINIC: Ach nein, nicht wirklich. Es gibt immer Fehler. Leute, die sich darüber aufregen, haben Literatur nicht verstanden. Es geht um die Größe des Versuchs. Pseudoperfektion ist glatt, Leipziger Literaturschule. Wer braucht so etwas? Ich jedenfalls nicht. Ich wollte nie jemand werden, den es schon gegeben hat. NOAH: Können Sie sich denn erklären, warum Sie unbedingt Schriftsteller werden wollten? GLAVINIC: Das war immer da, ich habe mit neun Jahren ein Filmdrehbuch geschrieben, eine Piratengeschichte. Damals habe ich noch nicht einmal gewusst, dass es etwas war, was ein Schriftsteller tut. Das Schreiben ist meine Form, mit der Wirklichkeit umzugehen und bei mir zu sein. Ich bin beim Schreiben so sehr bei mir, dass ich manchmal, sobald ich wieder hinausgehe, Angst bekomme, dass das nicht real ist. Schwere Angstwellen, nicht lustig. Ich habe die Theorie, dass jeder Mensch ein Gitter hat, durch das die Eindrücke in ihn dringen. Bei manchen Menschen sind die Zwischenräume größer. Ich befürchte, bei mir sind sie sehr groß. Wenn ich mit mehr als zwei Leuten am Tisch sitze, halte ich das nicht aus. NOAH: Sie haben viele Ängste? GLAVINIC: Nicht vor Dingen, vor denen die meisten Angst haben. Ich habe keine Probleme damit, in die düsteren Viertel zu gehen, dort wird es ja erst interessant. Aber ich kann ohne Licht nicht schlafen. Dunkelheit macht mir wahnsinnige Angst. Das war immer schon so. NOAH: Das Alleinsein Ihres Jonas hat mich beschäftigt … GLAVINIC: Welcher? NOAH: Es sind drei verschiedene Jonasse, aber es ist immer derselbe – ein Mann, der allein ist. GLAVINIC: Das bin ich ja. Ich bin ja allein. Nicht einsam, aber sehr allein. NOAH: Wenn man sich beim Lesen den Autor vorzustellen versucht, kann einem bange werden. Sie haben sich ja jahrelang in diese Männer reinschreiben müssen. Wie hält man das aus? GLAVINIC: Ich habe Szenen geschrieben, bei denen ich nicht hinsehen konnte, weil ich selbst Angst vor dem hatte, was ich da schrieb. Das klingt neurotisch, aber es war so. Danach musste ich manchmal eine Flasche Wein trinken, um wieder herunterzukommen. Ich war für fünf Stunden in diesen Einsamkeiten, einer leeren Welt. NOAH: In der Todeszone. GLAVINIC: Ja. Das ist es, was mich am Bergsteigen interessiert hat: diese Zone, in der man auf sich allein gestellt ist. Wenn man ein Problem bekommt, ist man tot. NOAH: Ist dieser Jonas eine Figur, die immer bei Ihnen ist – so wie Kinder einen imaginären Freund haben?
Ich schaue nie mehr in meine
bücher. wenn
ich es doch tue, denke ich
immer: das ist
so schlecht
GLAVINIC: Er hat schon vieles von mir. NOAH: Mögen Sie ihn? GLAVINIC: Da er am meisten mit mir zu tun hat, mag ich ihn ungefähr so, wie ich mich mag. Manchmal sehr, manchmal nicht so besonders. Man kann ja nur über Motive und Gefühle schreiben, die man selbst kennt. Über Hass zum Beispiel könnte ich nicht schreiben, weil ich nicht hassen kann.Ich kann über Liebe, Einsamkeit, Angst schreiben, das kenne ich. Aber es ist nicht so, dass ich meine Romane selbst ganz verstünde. NOAH: Vielleicht würde das das Schreiben sogar behindern. GLAVINIC: Wenn du weißt, warum du etwas tust, bist du ein Handwerker. Ist ja auch gut. NOAH: Wie schwer fällt es Ihnen, so lange bei einer Geschichte zu bleiben? Als Journalist ist man im Unterschied zu Ihnen Kurzstreckenläufer. Man geht in eine Geschichte rein und gleich wieder raus und ist dankbar dafür. GLAVINIC: Ich kann mich am Roman immer festhalten. Truman Capote hat einmal gesagt, dass ein Schriftsteller immer an einem Roman arbeiten sollte, weil die Zeiten kommen, in denen er ihn braucht. NOAH: Ich kann mir keinen unglücklicheren Menschen als Truman Capote vorstellen. GLAVINIC: Es gab Zeiten, in denen er glücklich war. Gegen Schluss hat er sich wahrscheinlich wirklich ein paar Tabletten zu viel reingehauen und zu viel gekokst. Und Erhörte Gebete hätte er nicht schreiben dürfen. Man schreibt nichts gegen die Menschen, von deren Zuneigung man abhängig ist. NOAH: Vielleicht wollte er testen, wie sehr er geliebt wird. GLAVINIC: Es war Selbstmord mit Anlauf. NOAH: Was ich bei der Schilderung Ihres Schreibprozesses nicht verstanden habe: wie Sie es schaffen, zu schreiben, während Sie laute Musik im Kopfhörer haben. GLAVINIC: Die höre ich nach einer Minute gar nicht mehr. Es lässt mich aus der Welt geraten. Anders geht es zwar auch, aber es ist schwieriger. NOAH: Und Sie machen tatsächlich immer nach zwei Seiten Schluss, auch wenn es gut läuft? GLAVINIC: Es ist sogar besser, wenn es gut läuft. Wenn man mitten im Satz aufhört, hat man am nächsten Tag keine Probleme mehr, weiterzumachen. Ich verstehe nicht, warum das sonst niemand macht. NOAH: Was passiert danach? Kommen Sie leicht wieder in die Welt? GLAVINIC: Nein, es ist ein langsames Auftauchen, manchmal auch unangenehm. Hin und wieder lege ich mich hin, weil ich erschöpft bin. Das klingt albern, aber es ist so. Ich habe auch lange nicht verstanden, dass der wahnsinnige Hunger, den ich dann oft habe, durchaus etwas mit dem Schreiben zu tun hat. Der Körper braucht Energiezufuhr, wenn man denkt. NOAH: Ist es schwer, mit Ihnen zu leben? GLAVINIC: Meine Ex-Frauen würden das bejahen. Ich selbst finde es nicht schwer. Aber das hat Klaus Kinski sicher auch gedacht. NOAH: Ich stelle es mir anstrengend vor, mit jemandem zusammenzuleben, der ständig abtaucht, um sich mit sehr existenziellen Sachen zu beschäftigen, und das dann vermutlich nicht immer leicht abschütteln kann. GLAVINIC: Manche haben es nur sehr kurz ausgehalten. Es ist auch schwer, mit jemandem zu leben, der etwas mit großer Besessenheit verfolgt und damit auch gewissen Erfolg hat. Für manche Frauen war das durchaus ein Problem. Ich habe ja auch eine gewisse charakterliche Festigkeit, die manche verunsichert. Obwohl es dazu eigentlich keinen Anlass gibt. NOAH: Entschiedenheit ist schwer zu ertragen, wenn man selbst keine hat. GLAVINIC: Früher habe immer ich die Frauen verlassen. Seit ein paar Jahren verlassen sie mich. Vielleicht liegt das ja an mir. Irgendwie kommt die Rede auf die Videos des „Islamischen Staates“, auf denen man sieht, wie Geiseln fast ergeben darauf warten, enthauptet zu werden, während ihre Schlächter noch Reden in die Kameras halten.
GLAVINIC: Ich kann das nicht verstehen. Ich habe mich das immer bei den Berichten aus Ghettos gefragt. Warum erschießt ihr nicht wenigstens einen, bevor ihr umgebracht werdet, Leute? Ihr habt doch nichts mehr zu verlieren. NOAH: Vielleicht liegt es daran, dass man bis zum Ende darauf hofft, dass das Schlimmste doch nicht eintritt. GLAVINIC: Aber man weiß es doch, man hat doch schon sein eigenes Grab schaufeln müssen. Außerdem kann man jedem Menschen zutrauen, dass in ihm das absolut Böse ist. Man sollte nie jemanden für einen guten Menschen halten, selbst wenn er einer ist. Der Zweifel muss immer da sein. Ich traue mir selbst durchaus einen Mord zu. Es gibt Situationen, in denen ich beschlösse: Diesen Menschen werde ich töten. Bei einem Jeffrey Dahmer oder einem Osama bin Laden könnte ich es mir vorstellen. Auch wenn es vernünftiger wäre, sie vor Gericht zu stellen. Ich wäre nicht tapfer in solchen Situationen, aber ich würde versuchen, vorher einen umzubringen. Ich habe mich immer gefragt, warum das so selten vorkommt. NOAH: Was sollte man Ihrer Meinung nach im Irak tun? GLAVINIC: Reingehen, mit Bodentruppen. Dort findet doch das absolut Böse statt, ein Völkermord. Es war ein riesiger Fehler, die irakische Armee aufzulösen, man braucht ja Leute, die für Ordnung sorgen. Aber der Abzug jetzt ist populistischer Unsinn. Zuerst rühren wir in der Scheiße rum, dass es ordentlich spritzt, dann ziehen wir einfach die Klobürste raus und gehen wieder nach Hause. Wie kann die Welt das zulassen? Die Menschen verstehen nicht, dass Demokratie nichts Endgültiges ist. Man kann sie auch wieder loswerden. NOAH: Wo stehen Sie denn politisch? GLAVINIC: In manchen Fragen habe ich eher linke, in anderen eher rechte Positionen. Die FPÖ hält mich allerdings für einen linken Staatskünstler. Wie jeden Künstler. NOAH: Was sollte an Ihnen denn rechts sein? GLAVINIC: Ich habe die Angst nicht, als Ausländerfeind oder Rassist zu gelten, und deswegen sage ich, wenn mir etwas an Immigranten nicht gefällt, die Regeln nicht akzeptieren, die hier gelten. Wenn sie zum Beispiel ihre Töchter nicht zum Schwimmunterricht lassen oder nicht mit Lehrerinnen reden wollen. So etwas wird einem in Österreich schon mal als ausländerfeindlich ausgelegt. Mir ist das ja egal, aber es gibt viele ganz normale Leute, die als rechts ausgegrenzt werden, bloß weil sie sich Sorgen machen – was nur dazu führt, dass die Rechten immer stärker werden. Weil sie die Einzigen sind, die diesen Leuten zuhören. Ich mag dies Abschnöselei nicht. Das ist pure Dummheit, von Salonlinken mit Schals. Unser Problem in Österreich ist, dass die (christdemokratische) ÖVP seit 28 Jahren in der Regierung sind. 28 Jahre Konservatismus in der Regierung. Österreich ist immer noch ein Bauernland. Uncharismatisch, fantasielos, ohne jede Vision. NOAH: Und die Sozialdemokratie? GLAVINIC: Hier leben 600 000 Menschen unter dem Existenzminimum. Die wissen nicht, was sie essen sollen. Keiner kümmert sich um diese Menschen, auch die Sozialdemokratie nicht. Weil die nicht wählen gehen, die sind ja schon fertig. Ich träume von einem Marsch der 600 000 über die Ringstraße. Bei einer Bewegung stöhnt Glavinic auf. NOAH: Was hat Ihr Trainer denn mit Ihnen gemacht? GLAVINIC: Wing Chun, eine Variante von Kung Fu. Ich habe damit begonnen, weil ich körperlich nicht verfallen wollte. Wing Chun ist die intelligenteste Selbstverteidigung. Man bleibt fit und hat Spaß. Man schwitzt, und es ist nicht so langweilig wie Schwimmen. Und ich muss ja etwas für meinen Körper tun. Ich hadere oft wegen meines Lebenswandels mit mir, aber man muss sich selbst verzeihen können. NOAH: Wie ist dieser Lebenswandel? Herumrennen, trinken, abstürzen? GLAVINIC: Unter anderem. Wenn ich schreibe, trinke ich fast nichts und gehe kaum weg. Aber wenn ich nicht schreibe … Früher war es schlimmer. Da war ich manchmal an sechs Tagen in der Woche in Zuständen, die andere nicht überleben könnten. Man kann sich wahrscheinlich nicht ändern, aber man kann sich zügeln. Manchmal muss man sich selbst sagen, dass man zu schnell galoppiert. Aber ich kann mir auch nicht alles versagen, was mir Spaß macht. Dann wäre ich nicht glücklich. Und glücklich möchte ich schon sein, soweit es eben möglich ist. NOAH: Das klingt, als wären Sie ein sehr körperlicher Mensch, jemand, der Spaß hat an Abstürzen, Anstrengung, Verausgabung. Auch in Ihren Büchern ist ungeheuer viel Bewegungsdrang – was in der deutschen Gegenwartsliteratur sehr ungewöhnlich ist. Ihre Helden gehen Berge hoch oder rasen durch Europa, obwohl kein einziger Mensch mehr am Leben ist. Normalerweise würde sich in einem deutschen Roman jemand dann irgendwohin verkriechen und über den Sinn des Seins nachdenken. GLAVINIC: Ich mag das Körperliche. Ich möchte nicht auf einem Bauernhof leben, aber es macht mir Spaß, etwas hochzuheben, Holz zu hacken, in einen Sandsack zu hauen. Ich fahre gern schnelle Autos. Und ich bin Ski gefahren wie ein Trottel. Weit über meine Verhältnisse. Ich möchte nicht in meinem Geist verkümmern. Ich bin auch ein Körper, und ich tue ihm sowieso schon zu viel Gewalt an. Es ist Wahnsinn, wie schnell die Leute verfallen. Ich kenne genug Leute, die mit 35 Jahren Bandscheibenvorfälle haben, das muss ja nicht sein. NOAH: Aber wenn es sich so verhält, ist es doch völlig daneben, ein Schriftsteller zu sein. GLAVINIC: Für alles andere bin ich völlig untalentiert. NOAH: Haben Sie das Gefühl, dass Sie sich mit jedem neuen Buch übertrumpfen müssen? GLAVINIC: Muss ich nicht. Aber ich würde gern mit jedem Buch etwas anderes machen. Und mir selbst das Gefühl geben, dass ich auch scheitern kann. Sobald ich merke, dass ich Angst habe anzufangen, weiß ich, dass ich richtig bin. NOAH: Interessieren Sie sich für den Literaturbetrieb? GLAVINIC: Überhaupt nicht. Die Buchmesse ist nur betrunken auszuhalten. Ich lese auch keine Feuilletons. Das deprimiert mich bloß. Die Kritiker haben oft hanebüchene Vorstellungen von Literatur. Aber es heißt ja: Mit wenigen Ausnahmen sind in einer Zeitung die blödesten Leute im Sport und in der Kultur zu finden. NOAH: Aber das sind lauter Menschen, die irgendwann auch alle Bücher geliebt haben. GLAVINIC: Jetzt lieben sie noch mehr sich selbst. Oder sie hassen sich. Zu Recht. Für manche Menschen muss es ja furchtbar sein, 24 Stunden täglich mit sich selbst auskommen zu müssen. NOAH: Sie mögen auch die deutsche Literatur nicht besonders? GLAVINIC: Es gibt so viele, die keine Melodie haben. Und jemand, der sprachlich wenig Fantasie hat, hat auch sonst keine. Wie kann man denn dauernd über nichts schreiben? Wenn mir nichts einfällt, dann schreibe ich eben nicht. Das ist doch absurd. Die Romane von Thomas Glavinic sind bei Hanser erschienen.
GLAVINIC 1972 IN GRAZ GEBOREN. 1998 ERSTER ROMAN: CARL HAFFNERS LIEBE ZUM UNENTSCHIEDEN. SEITDEM NEUN WEITERE ROMANE (DER AUTOR WüRDE HERR SUSI GERN VERGESSEN) UND EIN BAND MIT AUS-KüNFTEN ZUM SCHREIBPROZESS. LETZTE VERöFFENT-LICHUNG: DER KOLUMNENBAND SEX (ALS E-BOOK).