Ford Mustang
ENDLICH EIN EIGENES AUTO STATT PAPAS KARRE: DIE MUSTANG-GESCHICHTE
In der Nacht des 9. April 1964, irgendwo auf der Indiana Toll Road kurz vor Howe. Die Stimmung im Innern des roten Autobusses ist gut, langsam verebbt das Adrenalin. Die Detroit Red Wings haben im entscheidenden Spiel der NHL-Semifinalserie vor ein paar Stunden die Chicago Blackhawks auswärts mit 4:2 geschlagen und werden im Finale den Toronto Maple Leafs gegenüberstehen. „Hast du gehört?“, fragt Jungstar Pit Martin den Topscorer und Superstar der Red Wings Gordie Howe. „Oben in Dearborn haben sie mit der Produktion begonnen. Wirst du dir auch einen holen?“ „Lass uns erst den verdammten Cup gewinnen. Ford Mustang, yeah. Hab ich schon gehört.“ Nicht nur im boomenden Detroit der frühen 1960er, in ganz Amerika war der Mustang talk of the town und schaffte es zugleich auf die Cover von Newsweek und Time Magazine – bis heute einzigartig für ein Konsumprodukt. Mit einer beispiellosen Werbeoffensive betrommelte die damals allmächtige Ford Motor Company die Einführung des neuen kleinen Sportwagens, für den sich die Werber gleich eine eigene Kategorie hatten einfallen lassen: das Pony Car. Das Pony Car war kleiner als der durchschnittliche amerikanische Wagen seiner Zeit. (Im Gegensatz zu Europa wohlgemerkt; ein früher Mustang ist für uns auf der anderen Seite des Atlantiks noch immer ein stattliches Trummauto.) Die Rolle der Pony Cars war, durch gute Straßenlage, überlegenes Fahrwerk (auch das freilich im Kontext der Zeit) und Motoren in der ganzen Bandbreite von vernünftig bis brutal die arrivierten Großcoupés gründlich zu ärgern, dabei aber auch noch unverschämt sexy auszuschauen. Für die korrekte geistige Einstellung der Männer am Volant sorgte der konkurrenzlos niedrige Preis, der um mindestens ein Drittel unter jenem anderer Autos mit vergleichbaren Fahrleistungen lag. Dass vor allem Amerikas Jugend beherzt zugreifen sollte, war kein Zufall. Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der US-Autoindustrie hatten Produktplaner gezielt demografische Daten ausgewertet, um potenzielle Marktlücken ausfindig zu machen. Fords Mann dafür hieß Hal Sperlich, und er las aus den Daten, dass geburtenstarke Jahrgänge ins Führerscheinalter kommen würden. (Später würde man sie die Babyboomer nennen.) Was würden sie wohl fahren wollen, womit würden die Jungs die Mädchen beeindrucken wollen, welches Auto würde man auch noch ein, zwei Jahre fahren können, wenn der Erfolg bei Frauen Erfolg in der Geburtenstatistik gezeitigt hätte? Die bisherigen kleinen US-Autos waren nicht Teil der Lösung. Die waren entsetzliche Langeweile. Der sexy Mustang jedoch mit seiner unnachahmlichen Form war eine Lösung. Und was für eine! Daheim in Detroit kam Ford mit der Produktion nicht nach; die Planer hatten das Potenzial konservativ auf ein Drittel (!) der tatsächlich verkauften Stückzahl geschätzt. In einer der wenigen ruhigen Minuten im nächsten Jahr, vielleicht bei einem Heimspiel der beschissenen nächsten Saisons seiner Detroit Red Wings in der Old Red Barn, wird Lee Iacocca, Ford-Vizepräsident und „Vater des Mustang“, die unglaubliche Stampede seines Babys Revue passieren haben lassen: Was war da alles geschehen in den letzten Monaten! Alle Konkurrenten hatten nachgezogen, GM, Chrysler und AMC, und doch war es der Mustang, an dem sich alle anderen Ponys messen mussten. Letztes Jahr, anlässlich des 50. Jahrestages des Mustangs, offenbarte der inzwischen 90-jährige Lee Iacocca in einem Interview mit dem Fachmagazin Automotive News die Inspiration für seinen Geniestreich: „Mir haben diese viersitzigen sportlichen Autos aus Europa immer gefallen mit ihren langen Motorhauben und ihrem kurzen Heck. Warum gab es in Amerika nichts Vergleichbares? Das war der Punkt, an dem wir angesetzt haben.“
In Bullitt wurde Steve McQueen endgültig zum „King of cool“
Um eine Idee zu bekommen, was Iacocca so angetörnt hat, muss man sich einen Porsche 356 vorstellen, einen Maserati 3500 GT oder den beinahe vergessenen Fiat 8V (sprich: „Otto Vu“). Dass der Mustang dann doch eine gute Nummer größer ausfiel, liegt natürlich an Amerika selbst, andererseits aber auch am verwendeten Schlachtkreuzer Ford Falcon als Basis. Eine komplette Neuentwicklung war aus Kostengründen nicht möglich gewesen: Mickrige 45 Millionen Dollar Entwicklungs- und Produktionsbudget soll Henry Ford II dem ehrgeizigen Iacocca zugestanden haben, auch nach damaligen Maßstäben keine Welt. Allein mit dem glücklosen Ford Edsel – mit dem Spitznamen driving vagina wegen des etwas verfänglichen Kühlergrills – hatte der Konzern die fünffache Summe verbrannt. Not tut manchmal not, denn anstatt sich ein teures Designstudio anzulachen, entstand die Form im eigenen Haus. Gale Halderman ist der Name jenes Mannes, aus dessen Feder die entscheidenden Linien des Mustang kamen; er wurde von einem anderen, vermeintlich größeren Projekt abgezogen und recycelte ein paar Entwürfe, die er für eine Elektroauto-Studie (Anfang der 1960er!) gemacht hatte. Der Rest war Feinarbeit im Team. Entscheidend für den Erfolg des Mustangs waren en gros sicher die Karosserievarianten. Präsentiert als Cabrio, wurden kurz danach der Coupé und der optisch besonders schnelle Fastback nachgeschoben. Genau ein solcher war es dann auch, der in der berühmtesten Verfolgungsjagd der Filmgeschichte eine bestimmende Rolle bekommen sollte: In Bullitt jagt Steve McQueen als Lt. Frank Bullitt auf einem dunkelgrünen 68er Mustang Fastback einen schwarzen Dodge Charger R/T durch San Francisco, macht sich trotz Motorleistungsmanko endgültig zum „King of Cool“ und beweist, dass schwarze Rollkragenpullover nicht ausschließlich in Citroëns gehören. Die Pony Cars verschwanden mit der Benzinkrise zu Beginn der 1970er-Jahre relativ schnell, nur der Mustang blieb. Okay, über einige Modelle, die diesen legendären Namen tragen durften, hüllt man besser eine blickdichte Abdeckplane, zum Beispiel über die komplette dritte Generation, die hauptsächlich mit billigem Plastik, schwächlichen Motoren (absoluter Tiefpunkt: ein Vierzylinder mit heißen 89 PS) und der Abwesenheit von Design auffielen – wenn überhaupt. Ganz Detroit ging den Bach runter, und die Red Wings hatten passenderweise seit über dreißig Jahren keinen Stanley Cup mehr gewonnen. Spätestens seit 2004 war die Welt am Ponyhof aber wieder voll in Ordnung: Cooler Mustang der fünften Generation, die Red Wings fliegen wieder, der rotten charme von Detroit zieht in der Musikszene. Seit 2014 ist nun die sechste Generation am Start. Erstmals hat der Mustang das Zeug zum global seller und wird in Europa neuerdings ganz offiziell vom freundlichen Fordhändler vertrieben, gleich neben Fiesta und Focus. Könnte schon sein, dass da einige schwach werden: Der moderne Mustang jongliert gekonnt mit Retrodesign und spielerischem Unfug, vernachlässigt andererseits aber die Vernunft auch nicht völlig. Wer auf das lukullische Blubbern eines V8-Motors verzichten kann, wird mit dem 2,3 Liter-Vierzylinder auch das Auslangen finden, leistet er doch immerhin 315 PS und sollte mit 8 bis 9 Litern Benzin auskommen. (Beim Ur-Mustang war das – heiße Vergaser und beherzte Fahrweise vorausgesetzt – schon mal das Drei- oder Vierfache.) Durchaus eine Vernunftentscheidung, wenn man so will. Eventuell schafft es die sechste Generation ja sogar, die Spieler der Detroit Red Wings aus ihren SUVs zu holen. Lange Motorhaube, kurzes Heck, das ist eigentlich viel geiler als jeder Traktor der Welt, ungeachtet seiner PS.
text WERNER JESSNER