Von der Kunst, ein Motorrad zu zerlegen
Am aufregendsten sind Custom Bikes, wenn sie sich an extreme wagen. Die Auto Fabrica aus Essex baut Motorräder wie die Yamaha SR500 (links): aufs Wesentliche reduziert, durch die Verwendung von Alu für Tank und Teile der Verkleidung leicht- und schnellgemacht. Der Franzose Séb Lorentz geht oft den umgekehrten Weg – wie bei seiner modifizierten BMW R60/5 (oben), die perfekt zum Cruisen ist
Hier wäre eine Karriere, in der es nicht auf Lebenslauf, freiwilliges soziales Engagement in der Jugend, Auslandssemester an Ivy-League-Universitäten, kommunikative Kompetenz und rhetorische Brillanz ankam: Indian Larry. Geboren 1949, gestorben 2004, bei einem Motorradunfall. Dazwischen lagen unter anderem der Plan, eine Bombe zu bauen, um die katholische Schule in die Luft zu jagen, in der man ihn quälte, eine ausgewachsene Heroinsucht nach der Ermordung seiner Schwester Diane, Raubüberfälle zur Stoffbeschaffung, drei Jahre Sing Sing, Abhängen mit Robert Mapplethorpe und Andy Warhol, die Ehe mit einer Frau namens Bambi, die beim Kennenlernen dachte: „Der Typ sieht wie ein Massenmörder aus.“ Und jede Menge umgebauter Motorräder, von denen Menschen, die sich mit Bikes auskennen, heute noch gern sprechen, den Grease Monkeys zum Beispiel. Indian Larry (nicht sein richtiger Name, er wurde so genannt, seit er im New York der Achtziger mit einem gechoppten Indian unterwegs war) war einer der legendärsten Motorrad-Customizer in der Geschichte des Schraubens. Er war so etwas wie ein Naturtalent. Schon als kleiner Junge konnte er sich nichts Befriedigenderes vorstellen, als Fahrzeuge zu pimpen. Seine erste Großtat bestand darin, das Dreirad seiner kleinen Schwester Tina mit neuen Schwinngriffen und einem Rasenmäher-Motor aufzurüsten. Sein erstes eigenes Motorrad kaufte er sich als Teenager, eine Harley Knucklehead Baujahr 1939. In ein paar Stunden hatte er sie total auseinandergenommen, um sie dann neun Monate lang wieder zusammenzusetzen. Das wenige, das ihm zur Perfektion noch fehlte, brachte er sich während seiner Jahre im Gefängnis bei. Zu seinen Ehren wird im mittlerweile totgentrifizierten Brooklyner Hipster-Viertel Williamsburg immer noch alljährlich die „Indian Larry Grease Monkey Block Party“ abgehalten, ein extrem lautes Gedenken.
Es ist wie bei einer Frau: Nackt sieht sie noch besser aus
Vom Image des Rebellischen lebt die Szene bis heute. Wer sich ein Custom Bike zulegt, will nicht bloß ein Motorrad, das auf seine Bedürfnisse abgestimmt ist, er will sich auch selbst attestieren, dass er ein unbezähmbarer Individualist ist. Ein Mann, der sich nicht zufriedengibt mit den Produkten, wie sie vom Fließband kommen, einer, dem Tempobeschränkungen und Sicherheitsvorkehrungen sonstwo vorbeigehen. Was er braucht, ist eine Maschine, die ihn in die Freiheit fährt, weit weg vom Büro, aus dem temperierten Leben, dem ganzen Scheiß. Ein Serienprodukt schafft das nicht wirklich. Natürlich sind die legendärsten Custom Bikes noch immer die Harleys. Das Unternehmen aus Milwaukee hat in seiner Geschichte zwar nie überragend verkauft und stand hin und wieder vor der Pleite, aber eines hat es verstanden: den Mythos warmzuhalten, der jedem, der auf einer Harley sitzt, das Gefühl gibt, er wäre ein Easy Rider. Mittlerweile nimmt das gelegentlich komische Züge an. Weil das Harley-Publikum in die Jahre gekommen ist, gibt es auch Modelle mit Extrapolsterung, Sitz- und Griffheizung für die morsch gewordenen Knochen. Aber warum sollte man sich darüber lustig machen? Alte Herren mit wehen Bandscheiben könnten ihr Leben ja auch vor einem Flatscreen ausklingen lassen, der Harley-Opa dagegen lässt immer noch den Motor röhren. In Europa waren Harleys nie wirklich angesagt. Zu viele seltsame Rocker, die auf ihnen Bierbäuche spazieren fuhren, zu uncool, zu behäbig, zu augenfällig für endlose Highways gedacht, auf denen man in den Sonnenuntergang gleitet. Europäisches Testosteron will eher das schnelle, aggressive Pferd bezwingen. Paradigma ist der Café Racer. Dabei handelte es sich ursprünglich, in den Sechzigern, um Serienmotorräder, die zu Rennmaschinen umgebaut wurden, indem man ihnen alles wegnahm, was sie schwerer, komfortabler und langsamer machte. Keine Verkleidungen mehr, Stummellenker, leichte Tanks; eine Maschine, die nur noch nach diabolischer Geschwindigkeit ausah. Zwischen den Harley-Choppern und den Café Racern existieren unterschiedliche Typen von Custom Bikes. Die Tritons, bei denen Triumph-Motoren in Norton-Rahmen verbaut werden. Die Streetfighter, verkleidungslos und besonders stark motorisiert. Oder die Ratbikes, Geräte mit absichtlich grindiger Optik, oft mit seltsamem Kram behängt – berühmtestes Beispiel ist das Motorrad, auf dem Mad Max durch die Apokalypse fährt.
BEI BLITZ MOTORCYCLES IN PARIS IST ES KUNDEN STRENGSTENS VERBOTEN, IN DER WERKSTATT VORBEIZUSCHAUEN, EHE DAS BIKE FERTIG IST
Die Schrauber, die so etwas herstellen, sind Schöpfer mit eigener Ästhetik, Marotten und einem robusten Selbstbewusstsein ihren Kunden gegenüber. Wer sich zum Beispiel von Fred und Hugo bei Blitz Motorcycles in Paris ein Bike pimpen lassen will, muss viel Geduld haben. Stress, Liefertermine, Fremdbestimmung lehnen die beiden ab. Der Kunde hat ein Recht auf ein Erstgespräch, bei dem sie seine Bedürfnisse zu eruieren versuchen, aber danach ist es ihm strikt verboten, bis zur Fertigstellung des Teils noch einmal in der Werkstatt vorbeizuschauen. Für das Verhältnis zwischen Kundenwunsch und Künstlervision gilt bei ihnen die Formel „20 zu 80 Prozent“; wer das nicht verträgt, kann sich ja anderswo umsehen. Und David Borras, Chef der legendären galizischen Custom-Schmiede El Solitario, braucht für seine Umbauten erst einmal einen Namen, der sich in seiner Imagination verhakt, ehe er loslegt. Und das kann dauern. Zum Customizing gehört auch, dass es nicht über Nacht geht. Nicht nur weil sich die Schrauber ihr Glück, in einer Werkstatt herumzutüfteln, durch Hektik verkürzen wollen, sondern auch weil sie akzeptieren, dass man für das Gelingen eines Meisterwerks hin und wieder lange auf Eingebungen warten muss. Aber man kann ja auch selbst ran. Seit die großen Motorradhersteller erkannt haben, wie wichtig ihren Kunden Individualisierung ist, bieten sie zunehmend Customizing-Möglichkeiten an. Bei BMW etwa lassen sich mittlerweile ziemlich viele spezielle Komponenten und Race Parts ordern, und das Modell R nineT tritt ganz offensiv als in alle erdenklichen Richtungen individualisierbar auf. Längst auch engagiert das Unternehmen die Helden der Customizing-Szene, damit sie zeigen, was sich aus seinen Produkten machen lässt. So hat der schon erwähnte David Borras von El Solitario eine R nineT in ein recht morbides Geschoss verwandelt, „Impostor“ genannt, schwarz lackiert, Dirtbike vorn, Gitter vorn dran, Logo mit Totenkopf und gekreuzten Schraubenschlüsseln auf dem Tank, ein Bike direkt aus der Hölle. Auch Honda lotet bei der Mo’cye Design Challenge in Bangkok offensiv aus, wie extrem sich Serienprodukte verändern lassen. Was die Lust auf Radikallösungen betrifft, stehen die Customizer in Südostasien übrigens den Schraubern in Europa und in den USA nicht nach. Vielleicht ist das Potenzial dort sogar größer – schließlich werden in Thailand ungefähr viermal so viele Motorräder verkauft wie in den USA mit ihrer beinahe fünfmal so großen Bevölkerung. Allerdings macht es dann doch einen großen Unterschied, ob man ein fabrikneues Bike umbaut oder ein Vintage-Exemplar. Beim Motorrad aus der Fabrik ist das Customizing mental wohl eher so etwas wie eine Veredelung. Faszinierender sind die Umbaumaßnahmen, die den alten Mähren zugutekommen, die jemand irgendwo gefunden hat und dann liebevoll wieder fahr- und gegenwartstüchtig macht.
Das Ziel der ersten Café Racer war es, den Weg vom Ace Cafe bis zum nächsten Kreisverkehr und wieder zurück zu schaffen, bevor die single zu ende gegangen war, die jemand in der Jukebox gedrückt hatte
Oft handelt es sich dabei um nicht weniger als die Rettung eines Lebewesens, an das niemand mehr einen Gedanken verschwendet hätte – bis auf den Schrauber, der keine hoffnungslosen Fälle kennt. Er nimmt eine schon totgeglaubte Maschine auseinander, legt jedes Einzelteil, jedes Schräubchen vor sich hin, mobilisiert sein Schamanentum, und dann setzt er es wieder zusammen, mit neuen Teilen aus anderen Maschinen, originellere Lösungen findend, als den ursprünglichen Ingenieuren eingefallen sind, bis er irgendwann auf den Kickstarter tritt und neues Leben aufröhrt. Die Jungs von El Solitario zum Beispiel haben eine Ducati 900SS aus den Neunzigern so wieder aufgebaut, dass jetzt nur die besten Kenner in ihr noch eine Ducati wiedererkennen können. Oft ist Customizing auch eine Art Notwehrstrategie junger Männer, die sich die Preise nicht leisten können, die für Renner aus der Fabrik verlangt werden. Mit technischem Witz und Kühnheit wird aus einem mittelguten Bike dann doch noch ein Geschoss. Das Ziel der ersten Café Racer bestand darin, durch ihre Umbauten die Hundert-Meilen-Marke zu knacken. Und den Weg vom Ace Cafe zum nächsten Kreisverkehr und wieder zurück zu schaffen, ehe die Single zu Ende gegangen war, die jemand in der Jukebox gedrückt hatte. Record Race nannten sie das. Kann gut sein, dass das die romantische Beschwörung einer längst untergegangenen Zeit ist. Aber vielleicht sind die Customizer die letzten Romantiker, auf ihre ganz spezielle Art. Für sie ist ein Motorrad eben mehr als nur ein technisches Gerät, das sie von A nach B transportiert. Sie erkennen in ihm ein Wesen, das sie bis in die kleinste Kleinigkeit hinein kennenlernen wollen. Und dem sie helfen wollen, den Geist, der in ihm schlummert (und den vielleicht nur sie selbst ahnen) durch ihre Umbaumaßnahmen freizusetzen. Man könnte es Liebe nennen. Weil es so viel mit Hingabe, Schwärmerei, Verzückung zu tun hat und mit der Sehnsucht, miteinander durchzubrennen. Vielleicht ist es auch Kunst. Weil dem Customizen etwas so Feinfühliges eignet – die Erschaffung eines Unikats aus Blech, Farbe, Visionen – und weil jeder, der sich das zutraut, seinen eigenen Stil und seine eigene Philosophie hat. Die einen sind Old-School-Schrauber, andere finden nichts Verwerfliches daran, mit CNC-Maschinen zu arbeiten. Die einen wollen Motorräder möglichst nackig machen, reine Mechanik, die nach vorn schießt; andere sind Maximalisten, barocke Ironiker. Und allen bricht gelegentlich das Herz, wenn sie ihre Babys, an denen sie so lange gearbeitet haben, irgendeinem Auftraggeber überlassen müssen, einem reichen Typen, der sich selbst nie die Hände in der Werkstatt schmutzig machen würde und gar nicht wirklich zu schätzen weiß, was da zwischen seinen Schenkeln tobt. Egal. Das Schönste ist ohnehin der Moment, in dem eine neue Maschine hereinkommt, und der Schrauber steht und guckt und schaut noch länger und beginnt sich etwas zu überlegen. Dann nimmt er sie auseinander und legt jedes Teil vor sich hin. In ein paar Wochen oder Monaten wird ein neues Motorrad vor ihm stehen, eines, wie es die Welt noch nie gesehen hat. Jedenfalls die paar Leute, die noch erkennen können, wenn sich ein Wunder ereignet hat.
text ROBERT WELLER