homo naturae lupus
Der Mensch hat seinen Heimatplaneten so nachhaltig verändert, dass die Folgen bis in alle Ewigkeit abzulesen sind. 2016 entscheidet sich, ob das Anthropozän –das Zeitalter des Menschen – offiziell ausgerufen wird. Ein Plädoyer
Am 24. Dezember 1968 umkreiste Apollo 8 den Mond. Der Bordingenieur William Anders sah aus dem Fenster, während das Raumschiff bei der vierten Umkreisung um seine Längenachse rotierte. „Oh good earth, oh good earth“, flüsterte er beim Anblick des blauen und weißen Bogens, der dort über dem Horizont des Mondes aufging. Auf dem Foto, das Anders in diesem Moment schoss, ist unser Planet in seiner ganzen Verletzlichkeit zu sehen, einsam und umgeben vom Nichts schwebt er im Dunkel. Zum ersten Mal konnte die Menschheit sehen, dass die Erde keineswegs so unendlich groß, robust und unzerstörbar ist, wie sie immer wahrgenommen wurde. Und zum ersten Mal wurde ernsthaft überlegt, ob wir nicht anfangen sollten, ein bisschen besser auf sie aufzupassen, statt sie immer weiter auszunehmen, umzugestalten und sie wie eine riesige Vorratskammer zu behandeln. Die Feststellung, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist, kam plötzlich, aber nicht unerwartet. „Anthropozän“ heißt die neue Epoche, es ist die Menschenzeit, weil sich die Erde längst nicht mehr unabhängig von uns und unserem Handeln betrachten lässt. Wir gehen ihr an die Substanz, wir haben sie so nachhaltig verändert, dass die Folgen unserer Eingriffe bis in die Ewigkeit in ihren Schichten abzulesen sein werden. Was immer mit der Menschheit in der Zukunft passieren mag, wir werden niemals spurlos verschwinden. So richtig offiziell ausgerufen ist das Anthropozän noch nicht. 2016 soll die Entscheidung fallen, ob das vom Chemie-Nobelpreisträger Paul J. Crutzen benannte Zeitalter tatsächlich schon eingetreten ist. Die „Anthropocene“-Arbeitsgruppe der Internationalen Kommission für Stratigrafie ICS ist schwer am Diskutieren, ob das Holozän abgelöst wird – das „jüngste Zeitalter“, das vor 11 000 Jahren mit dem Ende der Eiszeit begann. Ihre Befunde wird die Gruppe der International Union of Geological Sciences IUGS vorstellen, um festzulegen, ob wir uns bald auch amtlich einem neuen Zeitalter zurechnen dürfen. Über dessen Beginn wird ebenfalls noch gestritten. War es 1784, das von Crutzen favorisierte Jahr, in dem James Watt die Dampfmaschine verbesserte? Oder der 16. Juli 1945, als mit „Trinity“ die erste Atombombe in New Mexico gezündet wurde?
GEOLOGIE DER MENSCHHEIT
Fest steht: Wir haben uns auf die Oberfläche des Planeten tätowiert, unsere Spuren sind überall. Müllteppiche aus Plastik von der Größe Mitteleuropas schwimmen in den Ozeanen. Seit der Industriellen Revolution pumpen wir Kohlendioxid in die Atmosphäre. Wir haben irre Material-bewegungen in Gang gesetzt, jedes Jahr gießen wir 8 Milliarden Kubikmeter Betonmasse auf die Oberfläche unseres Planeten und transportieren 13 Gigatonnen Sand auf Lastern und Kähnen. Seit dem Jahr 1800 hat sich die Weltbevölkerung versiebenfacht. Die Vermehrung der Menschen im 20. Jahrhundert erinnere eher an Bakterien als an Primaten, schreibt der Biologe Edward O. Wilson. Wir haben Megametropolen gebaut, die Ozeane und die Lüfte erobert und dringen in den Weltraum vor, von wo aus unsere Minen, Staudämme und Städte wie Fingerabdrücke auf der ganzen Erde erkennbar sind. Mit dem rasenden Fortschritt unserer Technologien und unserer mindestens ebenso rasanten Vermehrung, mit der Landwirtschaft und der Nutzung fossiler Brennstoffe haben wir es geschafft, die treibende Kraft eines großen Wandels zu werden. Normal ist das nicht. Es ist schon viele Milliarden Jahre her, dass die Entwicklung unseres Planeten das letzte Mal von einem Lebewesen bestimmt wurde. Damals überzogen Cyanobakterien die Erde. Die einzelligen Algen pumpten so viel Sauerstoff in die giftige Atmosphäre, dass Leben durch Atmen überhaupt erst möglich wurde. Lange hat sich der Mensch als vom Rest der Welt abgegrenzt gesehen. Hier wilde Natur, dort reflektierender Geist. Wir führten uns auf wie Herrscher und ersetzten im Lauf unserer Geschichte fast alle natürlichen Lebensräume durch Anthrome – Ökosysteme, in denen wir die Natur gestaltet haben. Die Idee der „unberührten Natur“ sei längst überholt, schreibt Christian Schwägerl, Autor der Anthropozän-Betrachtung Menschenzeit. Was uns umgibt, ist berührte Natur. Heute können vielleicht 20 Prozent der festen Erde überhaupt noch als Urnatur bezeichnet werden. Selbst die meisten Naturschutzgebiete sind keinesfalls ursprünglich, sondern wurden im Laufe der Geschichte von uns beeinflusst. Wir glaubten bisher, umso fortschrittlicher und freier zu sein, je weiter wir uns von der Natur entfernten, sagt der französische Historiker Christoph Bonneuil. Das Anthropozän beendet nun diesen Dualismus. Wir erkennen, dass wir tief mit den Systemen der Erde verwurzelt sind, dass Natur und Kultur sich längst nicht mehr trennen lassen. Endlich wird uns klar, was es heißt, dass auch jedes Atom unseres Körpers aus Elementen besteht, die bei der Explosion eines Himmelskörpers entstanden: Wir sind Sternenstaub, so wie alles Leben auf der Welt und der Planet selbst.
Die Natur – oder was wir so nannten, bevor wir verstanden, dass tatsächlich alles eins ist – hat die Unterscheidung zwischen „wir“ und „sie“ nie gestört. Unsere Kulturgüter – Städte, Parks, Industriegebiete – werden als Lebensräume von wilden Tieren genutzt. Dohlen, Stare und Eichelhäher zwitschern Handymelodien, bei Klippenschwalben verkürzen sich die Flügel, weil sie so Autos besser ausweichen können, und in Städten herrscht eine größere Artenvielfalt als in Agraranbaugebieten. Zwei Drittel der deutschen Vogelarten leben in Großstädten. Der vor 30 Jahren verschwundene Wanderfalke nistet jetzt in Nordrhein-Westfalens Industrieschornsteinen, in Essen leben bis zu 14 Füchse auf einem Quadratkilometer, im Wald wären es nicht mehr als drei. Feldhasen und Kaninchen quartieren sich in verlassenen Industriegebieten ein, und im Ruhrgebiet finden bedrohte Arten wie die Kreuzkröte Unterschlupf in den Brachen alter Stahlwerke. Die Natur mag sich an uns angepasst haben, die entscheidende Frage jedoch ist, ob wir unser eigenes Zeitalter überleben. Wer vom Anthropozän spricht, will damit meist den Unfug zusammenfassen, den wir mit unserer Umwelt treiben: die globale Erwärmung, die Ozeanversauerung, die Umweltverschmutzung, das Artensterben und den Meeresspiegelanstieg. Die Land- und Forstwirtschaft, die Industrie, die Verkehrsflächen und Städte, sie alle sind Eingriffe in die natürliche Ordnung, die das Ökosystem Erde aus dem Gleichgewicht bringen. Obwohl wir den Planeten erst seit einem Bruchteil seiner Existenz bevölkern, sind wir schon dabei, ihn aller Ressourcen zu berauben und uns selbst dabei auszulöschen. Wir haben die Erde ganz schön runtergerockt, so viel müssen wir zugeben. Wir sind nachlässig, gierig und selbstgefällig mit unserer Heimat umgegangen. Lange haben wir uns wie feiernde WG-Bewohner benommen, die mit Zigaretten Löcher in die Möbel brennen, Plastikbecher in die Ecke schmeißen und die Speisekammer ausräumen, bis nichts mehr übrig ist. Jetzt ist die Party vorbei, und mit brummendem Kopf registrieren wir die aufgebrauchten Vorräte und die Verwüstung, die wir in unserer eigenen Wohnung angerichtet haben. Und fragen uns: Können wir das Wetter reparieren, lassen sich die Speicher wieder auffüllen? Oder hatte der Astronom Carl Sagan recht damit, dass wir uns längst in freiem Fall befinden?
War es 1784, das von Paul J. Crutzen favorisierte Jahr, in dem James Watt die Dampfmaschine neu erfand? Oder doch der 16. Juli 1945, als mit „Trinity“ die erste Atombombe in New Mexico gezündet wurde?
Unser Verhältnis zur Natur hat sich verändert, ohne dass wir es rückgängig machen könnten. Nicht alles daran ist furchtbar, es sind nicht nur Katastrophen, die wir mit unserem forschen und forschenden Wesen herbeizuführen imstande sind. Schließlich sind wir nicht nur Zerstörer und Herrscher, wir sind immer auch Entdecker und Abenteurer. Wir haben Medizin und Impfungen entwickelt, die Milliarden Menschen retten können und unsere Lebensspanne verdreifachen. Wir waren auf dem Mond, können ganze Büchereien auf Mikrochips ziehen und bionische Gliedmaßen bauen. Wir sind in das Geheimnis des Lebens selbst vorgedrungen und haben es geschafft, unser Erbgut zu entschlüsseln. Durch das Internet sind wir als globale Gesellschaft miteinander verbunden, und im Dunkeln funkeln die Lichter unserer Städte den Beweis unserer Existenz ins All. Wir brechen zu Expeditionen auf, erklimmen Berge und überqueren Ozeane. Wir durchforsten entlegene Gegenden, wagen uns an den Rand des Vulkans und über die Erdatmosphäre hinaus. Häufig lässt sich unsere Risikofreude kaum noch von Dummheit trennen, wenn wir mit 220 über die Autobahn rasen oder uns an einem Gummiseil von Brücken schmeißen. Dass unsere Lust am Entdecken größer ist als die Angst vor dem, was wir dabei wohl erfahren, ist ein Zug, der nicht vernünftig, aber sympathisch ist. In unserer kindlichen Begeisterung wollen wir erforschen, anfassen und verändern, ohne an die Konsequenzen denken zu müssen. Erst sehr spät haben wir vor uns selbst zugegeben, dass wir mit hoher Wahrscheinlichkeit und irrer Geschwindigkeit auf den Zusammenbruch unserer Welt, wie wir sie kennen, zurasen. Seither probieren wir mit aller Kraft, das Problem zu lösen – weil wir helfen wollen und heimlich hoffen, uns in Zukunft vielleicht doch nicht allzu sehr einschränken zu müssen. Das Besondere an uns Menschen ist, wie gut wir unter Druck funktionieren. Der Philosoph John Dewey drückte es so aus: „Wir überlegen nur, wenn wir mit Problemen konfrontiert sind.“ Unser Erfindergeist wird erst durch Engpässe, Konflikte und Nöte geweckt. In Der dritte Mann stellt Orson Welles’ Charakter Harry Lime fest, dass Italien im 15. Jahrhundert zwar unter Krieg, Mord und Blutvergießen gelitten hat, in derselben Zeit aber auch Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance hervorbrachte. Auf Krisen reagieren wir mit Kreativität. Um unsere Heimat zu retten, entwickeln wir heute fast täglich Lösungen. Elektroautos, erneuerbare Energien durch Solarzellen und Windanlagen, sensorbestückte Satelliten und Messstationen, um die Umwelt im Blick zu behalten und schnell reagieren zu können. Gebäudefassaden in Mexiko filtern Abgase, Fußbälle generieren durch Bewegung Elektrizität für Solarlampen, und Einlegesohlen sollen mit jedem Schritt Energie in einer kleinen Batterie speichern. Wir entwickeln kühne Ideen wie schlaucharmige Fangarme, um den Müll aus dem Meer zu fischen, und Geo-Engineering, dieses etwas wahnsinnig klingende Konzept, die Erde künstlich abzukühlen – sei es mit Jets, die Schwefelaerosole in der Atmosphäre freisetzen, um einen Bruchteil der dort eindringenden Sonnenstrahlen abzublocken, oder mit Drohnenflotten, die über die Meere fliegen, um Salzwasser in Wolken zu sprühen, damit die sich aufhellen und mehr Sonnenlicht reflektieren. In Frankreich wird das größte Forschungsprojekt der Erde, der International Thermonuclear Experimental Reactor, kurz Iter, von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt betreut.
Im Dunkeln funkeln die Lichter unserer Städte den Beweis unserer Existenz ins All
Iter könnte schaffen, was den Sternen am Himmel milliardenfach still gelingt: Energie zu produzieren ohne Treibhausgase und ohne Verluste an Ressourcen. Kernfusion auf der Erde statt im Innern der Sonne ist das Ziel. Sollte es wirklich gelingen, hätten wir eine unerschöpfliche Energiequelle, wir würden sozusagen unsere eigenen Sterne bauen können. Doch noch weiß niemand, ob es funktionieren wird, noch lässt sich das entstehende, hochempfindliche Plasma nicht stabil einschließen. Die Lösung unseres Energieproblems liegt knapp außerhalb unserer Reichweite – also genau dort, wo unser Erfindergeist zum Leben erwacht. Für den kleinen Rest unberührter Natur sind Rückzugsgebiete geplant. Bis zum Jahr 2020 sollen 17 Prozent der Landfläche und 10 Prozent der Meeresfläche unter effektiven Schutz gestellt sein. In der norwegischen Samenbank Svalbard Global Seed Vault werden in einigen Jahren über zwei Milliarden Planzensamen eingelagert sein, die Tier-Gendatenbanken „CRYO-Brehm“ und „Frozen Ark“ frieren die DNA, Zellen und Gewebe von bedrohten Tierarten ein. Eines Tages soll die Kollektion Proben von mehreren Tausend Tierarten enthalten, die auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN stehen. Weil es in unserer forschenden Natur liegt, keine Grenzen zu akzeptieren, versuchen wir uns auch an der Wiederbelebung bereits ausgestorbener Arten. Wissenschaftler träumen schon davon, das Mammut auferstehen zu lassen. Es soll helfen, die Tundra im Norden Sibiriens in Grasland zu verwandeln und durch die resultierende Bindung von Kohlendioxid die Erderwärmung zu bremsen. Es ist eine so irre wie einfallsreiche Idee, die Hilfe ausgestorbener Arten in Anspruch nehmen zu wollen, um unser Chaos wieder zu richten. Sie erinnert aber auch daran, dass es dem Planeten schon immer egal war, wer überlebt. Jede Art stirbt irgendwann aus, auch unsere. Keiner wird einen Suchtrupp schicken, um uns aus der Dunkelheit zu retten, sagte Carl Sagan. Wenn wir wollen, dass das Anthropozän nicht ebenso schnell vorbei ist, wie es aufkam, müssen wir nachhaltige Lebensweisen nicht nur entwickeln, sondern uns dazu durchringen, sie auch anzuwenden. Wir können uns nicht länger wie unhöfliche Besucher aufführen, sondern müssen erkennen, dass wir ein Teil des Ganzen sind – der Natur, der Erde, des Kosmos. Menschgewordener Sternenstaub.
text Jenny Buchholz
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